DSLR statt Mirrorless

Entscheidung für eine Spiegelreflex in Zeiten der spiegellosen Kameras

von Yuan Oliver Jin

leicht gekürzte Übersetzung des Originalartikels auf Casual Photophile

Ich hatte den Tag damit verbracht, aus dem Fenster zu starren und die Webseite der Sendungsnachverfolgung Gott weiß wie oft zu aktualisieren. Schließlich erschien der Paketbote. Er ließ ein Paket zurück, darin eine generalüberholte Nikon D850 mit einem 50 mm/1.8-Objektiv. Nach Wochen des Hin und Her hatte ich mich für eine Spiegelreflex als Arbeitspferd entschieden. Vor zehn Jahren wäre das nicht weiter bemerkenswert gewesen. Heute, in Zeiten der Spiegellosen, sind Spiegelreflexe nicht die offensichtliche Wahl.

Besuchen Sie aktuell die Website eines Kamerahändlers, und Sie fühlen sich wie ein Kind im Bonbonladen. Meine Güte, B&H in New York wirkt wie Willy Wonkas Schokoladenfabrik mit seinen glitzernden Lichtern und Kakofonien, seinen emsigen Angestellten und mehreren Etagen voller Köstlichkeiten, und über der geschäftigen Menge windet sich ein wirbelndes Netzwerk von Förderbändern, die Schätze über, durch und zwischen Deckenbalken transportieren. Man muss es gesehen haben, um es zu glauben.

Der Wettbewerb zwischen den Kameraherstellern geht weiter wie seit Jahrzehnten; manch alter Konkurrent blieb auf der Strecke (ruhet in Frieden, Minolta und Olympus), manch neuer kam hinzu (Panasonic, Sony). Doch der Ringkampf zwischen DSLR und Spiegellosen verändert die Industrie. Der jüngste Eintritt von Canon und Nikon, den größten DSLR-Produzenten, in den Markt der Spiegellosen wirkt wie ein seismisches Beben. Er ist nach Ansicht vieler Fotoblogs das Ende der DSLR – Spiegellose sind besser, schneller, schlauer und schlanker. Gute Reisekameras. Sie wissen, welches Bild Sie wollen, bevor Sie es wollen. „Zu Ende sind die Tage mit sperrigen, schweren Apparaten mit all den überflüssigen Spiegeln und Prismen“, sagen sie. Das Erscheinen von Canons neuem spiegellosen Kamera-Flaggschiff EOS R5 hebt den Gesang derer, die das Totenlied der DSLR singen.

Und ich verstehe diese Sicht. Auf einer rein technischen Ebene scheinen DSLR dazu bestimmt, von diesen Neulingen mit ihren elektronischen Suchern, dem schlauen Autofokus und der Bildstabilisierung verdrängt zu werden. In einer Welt, in der Bildsensoren und Prozessoren schneller, intelligenter und effizienter sind als je zuvor, müssen Kameras das Licht nicht länger davon abhalten, vor der Aufnahme den Sensor zu erreichen, wie in den frühen Tagen der digitalen und der analogen Fotografie.

Wenn wir bedenken, wie mächtig heutige Sensoren sind, scheinen Spiegel und Pentaprismen bloß ein Relikt der Vergangenheit zu sein. All diese Mechanismen, die das Licht blockieren, werden bald vollkommen veraltet sein, wenn sie es nicht schon sind. Firmen wie Sony und Canon beweisen die Vorteile ständiger Sensor-Aktivität mit der verfeinerten AF-Verfolgung in ihren spiegellosen Kameras. Diese Kameras haben ihren Sinn: Sie sehen genau, was der Sensor sieht, und im Grunde machen Sie Screenshots von Permanentaufnahmen der Welt. Der elektronische Sucher liefert dem Nutzer viel mehr Information als jedes optische Suchersystem: Belichtung, Wasserwaage, Histogramm, Zebra, Fokus, Farbverschiebungen, Mikrofonanzeige – was immer Sie wollen.

Es ist auch wichtig festzustellen, dass diese neuen Kameras – bei all den Investitionen der großen Hersteller in Forschung und Entwicklung – gerade erst loslegen. Allein in den letzten sieben Jahren habe Spiegellose enorme Fortschritte in Funktionalität und Benutzerfreundlichkeit gemacht (bedenken Sie, dass Sony die erste Generation von Vollformat-Spiegellosen 2014 auf den Markt brachte). Noch vor drei oder vier Jahren standen die Fotoblogs bereitwillig auf der Seite der DSLR. Heute sehen wir die Spiegellosen rapide an Boden gewinnen. Wer weiß, wo sie in fünf Jahren stehen werden? Wo die Fotografie stehen wird? Vielleicht werden Hochzeitsbilder künftig von Robotern gemacht: Sie können, das nur mal so am Rande, eine Canon R5 auf einen dieser Roboterhunde von Boston Dynamics setzen.

Es wäre einleuchtend, wenn meine ersten Absätze Sie schon zu Ihrem Fotohändler getrieben hätten, wo Sie die neueste und tollste spiegellose Kamera bestellen. Elektronischer Sucher? Bildstabilisierung? AF-Verfolgung? Gut angelegtes Geld! In eine DSLR zu investieren ist nahezu idiotisch, wie Geld in den Bergbau zu stecken, wenn es bei der erneuerbaren Energie mehr Jobs und höhere Löhne brächte. Niemand täte das. Oder?

Also ja, DSLR sind tot. Aber lassen Sie mich erklären, warum ich eine Spiegelreflex einer Spiegellosen vorziehe, wenigsten im Moment noch. (Doch im Ernst: Erneuerbare Energie ist die Zukunft.)

Argumente für die Spiegelreflex

Viele dieser Argumente werden nicht überdauern. Fortschritt ist unvermeidlich, und die Zukunft ist spiegellos. Aber jetzt dazu, warum ich 2020 eine DSLR wählte:

Stärke – Spiegelreflexe sind größere und robustere Maschinen. Momentan jedenfalls flößt die Nikon D850 Vertrauen ein, das Kameras etwa der Sony a7-Serie einfach nicht vermitteln, besonders bei Bedingungen, die von Elektronik verabscheut wird. Doch das wird nicht so bleiben. Tatsächlich versprechen Firmen wie Canon bereits, ihre professionellen Spiegellosen seien genauso robust wie ihre Spiegelreflexkameras. Geben Sie den Spiegellosen noch etwas Zeit und ich bin sicher, dass sie sich einen guten Ruf erwerben. Als Nikon sich bei der F3 für einen elektro-mechanischen Verschluss entschied, blieben viele Profis beim bewährten mechanischen Verschluss der F2, doch mit der Zeit erwies sich die F3 als genauso zuverlässig wie ihr Vorgänger, wenn nicht zuverlässiger. Spiegelreflexe sind einfach schon lange genug da, um beim Design vervollkommnet zu sein. Ich zweifle nicht, dass die Spiegellosen aufholen werden.

Ergonomie – im Augenblick übertreffen DSLRs die Spiegellosen auch in dieser Hinsicht. Ich liebe all die Knöpfe und Hebel an meiner D850, aber die Spiegellosen werden diesen Komfort sicher bald auch bieten. Generell haben DSLRs mehr dezidierte Tasten, während Spiegellose mehr zu konfigurierbaren Bedienelementen neigen. Das ist letzten Endes eine Geschmacksfrage, und ich bevorzuge dezidierte Tasten. Anordnung und Funktion dieser Knöpfe sind im Laufe der Jahre gereift, und ich sehe keinen Grund, das Rad neu zu erfinden. Wenn Canon und Nikon mir sagen, wo die ISO-Taste oder der Knopf für Belichtungsmodus ist, nehme ich sie beim Wort.

Der tiefe Handgriff an meiner DSLR fühlt sich großartig an, aber ich habe auch die letzten spiegellosen Kameras von Sony, Canon und Nikon probiert, und es gibt da wirklich nicht viel zu klagen. Ich habe durchschnittlich große Hände, und während es frustrierend und ermüdend war, Sonys erste Generation vollformatiger Spiegelloser zu halten, so haben die Spiegellosen in diesen Tagen große Fortschritte gemacht. Sie entfernen sich eindeutig von der Design-Doktrin des Leichten und Kompakten, welche die Entwicklung der frühen Jahre diktiert hatte. Heutzutage sind sie strapazierfähig, witterungsgeschützt und langlebig. Natürlich spielten Design und Ergonomie eine Rolle bei meiner Wahl zugunsten der D850. Alles in allem haben Spiegellose noch nicht ganz diesen Stand erreicht. Der entscheidende Grund aber hat mit einem mehr grundsätzlichen Unterschied zwischen beiden Kameratypen zu tun. Einer davon wird sich auch mit der Zeit nicht ändern: der optische Sucher im Gegensatz zum elektronischen.

Optischer Sucher – für mich ist der Blick durch einen optischen Sucher einer Spiegelreflex einfach das Richtige. Dies ist ein Mechanismus, der über Jahrzehnte perfektioniert wurde, und ein Spitzengerät wie die D850 bietet Ihnen den besten Sucher, den es gibt. Das Bild ist scharf und hell, und der Bereich unterhalb des Sucherbildes informiert uns über jede wichtige Einzelheit, ohne den Blick auf die Welt zu beeinträchtigen. Anders als der wohljustierte und -berechnete elektronische Sucher gibt der optische Sucher Raum zum Denken und Urteilen. Nichts verstellt den Blick auf die Szene außer einem kleinen Viereck, das Vertrauen in die Schärfe vermittelt. Wechseln Sie zum 3D-Tracking und Dauer-AF, und das Viereck wird anfangen herumzutanzen, um Ihrem Motiv zu folgen. Magisch. Der Sucher der D850 hat unten rechts sogar eine erstaunlich nützliche Wasserwaage; perfekt für etwas strengere Kompositionsbedürfnisse.

Ich bin keiner, der optische Sucher für natürlicherweise besser hält als elektronische. Während deren frühe Modelle unter geringer Auflösung, Farbtiefe und Bildrate litten, sehen heutige E-Sucher ziemlich spektakulär aus, und sie werden nur noch besser. Doch sie lassen Sie nie vergessen, dass Sie auf einen Bildschirm blicken. Das wird sich mit der Zeit nicht unbedingt verbessern, denn die Anzeigetechnik hat die lebensechte Darstellung längst hinter sich gelassen. Filme in Imax-Kinos sind atemberaubend anzusehen, aber man weiß doch, dass es etwas anderes ist als die Wirklichkeit. Die Bildschirme versuchen besser als die Wirklichkeit zu sein: heller, kontrastreicher, farbkräftiger und schärfer. Damit stechen sie in unserer Wahrnehmung immer hervor. Ich verbringe schon die meiste Zeit mit dem Gesicht vor irgendeinem Bildschirm, ob Computer, Smartphone oder Fernseher. Heutzutage bin ich ziemlich desensibilisiert gegenüber Dingen, die ich auf einem Bildschirm sehe. Ein elektronischer Sucher vor meinen Augen tut dasselbe: Er dämpft meine Wahrnehmung dessen, was vor der Kamera passiert. Er übersetzt die Welt für mich und hält sie zugleich fern von mir. Ich weiß nicht, ob ich das brauche. Ich ziehe eine Koexistenz mit meiner Kamera einer Symbiose mit ihr vor.

Man muss nicht noch mehr ein Teil der Maschine werden, um ein besserer Fotograf oder Künstler zu werden. Wenn wir den Wettbewerb zwischen DSLRs und Spiegellosen in die längere Geschichte der Kameraentwicklung rücken, erkennen wir, dass die Kamera immer stärker die Rolle eines Vermittlers zwischen Fotograf und Welt angenommen hat. Bei den Großformatkameras, welche die Geburt der Fotografie einleiteten, verschwand der Fotograf zwar unter dem schwarzen Tuch, um das Bild scharfzustellen und zu komponieren, stand aber während des Belichtens ganz neben der Kamera.

Bei Sucher- und Messsucherkameras sieht der Fotograf die Welt durch ein Fenster neben dem aufnehmenden Objektiv. Bei zweiäugigen Spiegelreflex-Kameras wird die Welt durch mehr Optik wiedergegeben, aber der Fotograf ist immer noch von der Kamera getrennt. Spiegelreflexkameras schließlich vereinen die Sicht des Fotografen und die der Kamera durch ein einziges Objektiv. Nun zeigen spiegellose Kameras dem Fotografen die exakten Signale des Kamerasensors. Diese Entwicklung, die nach Exaktheit und Präzision strebt, fühlt sich wissenschaftlich und mechanisch an, und während es gut ist, dass dem Fotografen immer mehr Werkzeuge zur Verfügung stehen, müssen wir bei all diesem Streben auch unsere Menschlichkeit abwägen.

Eine gut eingestellte und präzise Kamera ist notwendig, aber auch das beste Werkzeug kann sich zwischen Werk und Schöpfer stellen. Hinter dem optischen Sucher einer DSLR fühle ich mich der Welt viel direkter und stärker verbunden. Wir sind letzten Endes Tiere, und es ist wichtig, eine direkte Sinnesverbindung mit der Welt zu haben. Das ist nur menschlich.

Abschließende Gedanken

Ich will nicht behaupten, dass die natürliche Entwicklung der Kameras eine schlechte Sache ist. Ich würde es sicher nicht schätzen, heutzutage eine Fachkamera herumzutragen. Verschiedene Werkzeuge ermöglichen verschiedene Gelegenheiten, Möglichkeiten und Methoden. Ich mag die Arbeit mit der Fachkamera, ich mag meine Messsucherkameras, und Spiegelreflexe sind für eine Menge Sachen gut. Natürlich gibt es viele Anwendungsfälle, die eine spiegellose Technik nahelegen, wenn nicht gar verlangen würden. Ich glaube einfach, viele Technik- und Fotoblogs begehen den Fehler, das Neue für das natürlich Bessere zu halten, welches das Alte ersetzt und überflüssig macht, auch wenn das selten der Fall ist.

Ich hatte das Gefühl, dass eine DSLR als Hauptkamera – vor allem eine so gute wie die Nikon D850 – die Erfordernisse präziser Bildgestaltung mit meinem Wunsch in Einklang bringt, mit der Realität verbunden zu bleiben, und zwar auf eine physische, greifbare und angenehme Weise. Diese modernen DSLRs haben bereits mehr Schnickschnack, als ich zählen kann. Heutige Bildsensoren sind flexibel genug, um ein paar Blendenstufen Fehlbelichtungen zu verzeihen, und die automatische Belichtung ist intelligent genug, um nur selten einen Fehler zu machen. Für das, was ich tue, bin ich völlig zufrieden damit, meine „unvollkommene“ optische Sicht auf das Leben zu genießen und meiner Kamera zu vertrauen, dass sie einige meiner Fehler verzeiht.

Glauben Sie nicht dem „Neuer-ist-besser“ der Eiferer. Mit einer Analogkamera im Jahr 2020 zu fotografieren ist okay. Eine Einwegkamera zu benutzen ist okay. Fotos mit dem Handy zu machen ist okay. Und sich in der Ära der spiegellosen Kameras für eine DSLR zu entscheiden, ist definitiv mehr als okay. Ich empfehle es sogar.

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